Rolf Meinecke erntet Mangold für sein Abendessen. Er tut das nicht auf einem Feld oder in einem Schrebergarten, sondern in einer Aquaponik-Anlage in einem Dortmunder Hinterhof. Rolf und seine Kollegen produzieren hier Mangold und Fisch in einer selbstgebauten und selbstfinanzierten Anlage. Das 11-Quadratmeter-Eigenbau-Gewächshaus soll der Prototyp für eine Expansion werden – die vielen Brachflächen des Ruhrgebiets bieten dafür den idealen Raum.

Rolf (45 Jahre alt und Dipl. Ing. Chemietechnik) hat vor ein paar Jahren das Gärtnern für sich entdeckt und sich als absoluter Laie auf 300 Quadratmeter Ackerfläche gestürzt – mit all den Problemen und Erfolgserlebnissen, die das für einen Anfänger bringt. Auf der Suche nach Möglichkeiten die Effizienz seines Gartens zu erhöhen, dachte er an ein Gewächshaus und landete bei Aquaponik-Systemen. Die Idee von Aquaponik ist es, das natürliche Zusammenspiel von Tieren und Pflanzen für eine umweltfreundlichere Landwirtschaft einzusetzen: Die Ausscheidungen von Fischen werden für die Düngung von Pflanzen genutzt; die Pflanzen klären im Gegenzug das Wasser der Fischtanks.

11 Quadratmeter Fischzucht und Gemüsebau im Gewerbehof
11 Quadratmeter Fischzucht und Gemüsebau im Gewerbehof

Die Rheinische Straße in Dortmund, westlich der Dorstfelder Brücke, ist einer der Orte im Ruhrgebiet, an dem Industrie nichts mit Industrieromantik zu tun hat – und an denen man auf keinen Fall landwirtschaftliche Pilotprojekte vermuten würde. Zwischen Bahnlinien und dem Werksgelände der Hoesch Spundwand GmbH ist nur Platz für wenige Wohnblocks. Alles wird überragt von der grünen Wand einer Werkshalle, prachtvoll steht davor das leerstehende Verwaltungsgebäude der Dortmunder Union von 1921. „Es lobt den Mann die Arbeit und die Tat“, verkündet die Fassade. Das Quartier ist Teil des Stadtumbaugebietes Rheinische Straße. Und wie so oft im Ruhrgebiet lohnt der zweite Blick. So hat sich an der Rheinischen Straße beispielsweise der Verein „Die Urbanisten“ niedergelassen. Der bunte, interdisziplinäre Verein sieht sich als Impulsgeber, Initiator und Beteiligungsplattform für die Gestaltung der Stadt. Einen Block weiter ist in den 1980er-Jahren ein Gewerbehof in ehemaligen Hoesch-Werkstätten entstanden. In einer der Ecken dieses Gewerbehofes steht seit letztem Sommer das Aquaponik-Gewächshaus – direkt vor der riesigen grünen Wand der Werkshalle. Hier arbeitet Rolf Meinecke mit anderen Urbanisten an einer modernen Form der städtischen Landwirtschaft.

Ebbe und Flut im Tomatenbeet

Schon wenn man vor dem Gewächshaus steht, hört man das Plätschern und Gurgeln des Wassers, nach dem Betreten steht man direkt vor einem Hochbeet mit üppigem Gemüse. Die 11 Quadratmeter wollen komplett genutzt sein. Das Gewächshaus ist in zwei Ebenen aufgebaut: die obere gehört den Pflanzen, die untere dem Wasser und den Fischen. Vier aufgeschnittene IB Container dienen als Beete. Sie sind mit Blähton gefüllt: Das sind die klassischen Hydrokulturkügelchen, wie man sie von unzähligen Wartezimmerpflanzen kennt. In dem Substrat wachsen Mangold, Tomaten, Peperoni und anderes Feingemüse. „Wir bewässern die Beete im Ebbe-und-Flut-Verfahren. Die Beete laufen mit Wasser voll, dann fließt es wieder ab”, erklärt Rolf Meinecke. „So bekommen die Pflanzen genügend nährstoffangereichertes Wasser und die Wurzeln ertrinken nicht.” Die Taktung von Ebbe und Flut erledigt das Wasser selbst, mit einem Prinzip, das an einen WC-Spülkasten erinnert. Auf der unteren Ebene des Gewächshauses fällt vor allem der Fischtank auf. In dem einen Kubikmeter großen Tank leben 18 Karpfen. Sie produzieren Nährstoffe für die Pflanzen und Fleisch. Rolf Meinecke denkt, dass die Lebensbedingungen für die Karpfen sehr gut sind. „Allerdings ist das hier kein Streichelzoo, sondern eine Aquakultur.”

Aquaponik Dortmund
Das Aquaponik-Gewächshaus der Dortmunder Urbanisten

Das Wasser wird im Gewächshaus durch einen geschlossenen Kreislauf gepumpt. Das Wasser der Fischtanks wird durch einem Filter von Feststoffen befreit und fließt dann in die Pflanzbeete. In deren Substrat bildet sich ein Biofilm mit Bakterien. Wie im natürlichen Stickstoffkreislauf wandeln die Bakterien das Ammonium in den Ausscheidungen der Fische erst zu Nitrit und dann zu Nitrat um. Das Nitrat wiederum dient den Pflanzen als Nahrung und wird so dem Wasser entzogen. Das geklärte Wasser kann dann wieder in den Fischtank fließen. Aquaponik ist also der Versuch den natürlichen Stickstoffkreislauf nachzubauen. Der große Nachteil: Anders als in der Natur braucht der Nachbau Strom und Fischfutter als ständigen menschlichen Input. Der große Vorteil: Der Zusatz von Dünger wie in klassischen Hydrokulturen und das Klären des Wassers wie in herkömmlichen Aquakulturen fällt weg.

Die Ideen von Rolf gehen über das Gemüse für den Eigenbedarf hinaus. Aus dem gemeinnützigen Projekt der Urbanisten entsteht gerade ein professionelles Spin-off. Die große Frage, die er sich stellt, ist: „Unter welchen Bedingungen rechnet sich das?” Als einen der großen Vorzüge von Aquaponik in Städten beschreibt er die positiven Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit. „Doch dieser Aspekt lässt sich nicht einpreisen: Kein Verbraucher zahlt für ein Produkt mehr, weil es in Zukunft mal die Versorgung sichern könnte”, stellt er fest. Widerstandsfähigere Ernährungssysteme seien eine Aufgabe der Politik. Mit Regionalität und Umweltfreundlichkeit will er die Verbraucher überzeugen.

Aquaponik für das Ruhrgebiet

Livedaten direkt auf das Smartphone
Livedaten direkt auf das Smartphone

Als einen möglichen Geschäftszweig sieht Rolf Meinecke die Produktion von Aquaponik-Systemen für den heimischen Garten. Aus Dortmund würden die Materialien und eine Bauanleitung geliefert. Der Käufer könnte dann das System selbstständig aufbauen – oder die Montage im Vollservicepaket gleich mitbuchen. Auf seinem Smartphone hat Rolf schon einen Bestandteil dieses Pakets: Eine App, die nicht nur Livebilder aus dem Gewächshaus überträgt, sondern detaillierte Messwerte des Systems. Die andere Geschäftsidee ist die professionelle Produktion von Lebensmitteln mit großen Aquaponik-Anlagen. Aquaponik produziert bodenunabhängig, so kann man Lebensmittel auch auf altindustriellen belasteten Flächen erzeugen. Die bietet das Ruhrgebiet immer noch reichlich. Industrie und Haushalte im Ruhrgebiet generieren Abwärme, die man zum Heizen des Wassers einsetzen könnte. Rolf sucht gerade nach Geldgebern für eine Machbarkeitsstudie.

Für den Augenblick freut er sich aber einfach auf sein Abendessen mit einem dicken Strauß herrlich aussehenden Mangolds – selbstgeerntet im eigenen Wohnviertel, in einem Dortmunder Gewerbehof. Da darf man ruhig neidisch werden.

Urbanisten-Links
Blog vom Aquaponik-Projekt bei den Urbanen Oasen (mit Webcam)
Die Urbanisten e.V.
Stadtumbau Rheinische Straße und Unionviertel bei der Stadt Dortmund