Tafeln, die kostenlos Lebensmittel an Bedürftige verteilen, sind in deutschen Städten ein weit verbreitetes Phänomen. Sie selbst bezeichnen sich als die größte soziale Bewegung unserer Zeit. In Deutschland gibt es 860 Tafeln, die rund eine Millionen Menschen versorgen. 50.000 Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Seit Gründung der ersten Tafel in Berlin 1993 haben die Foodbanks (so der Name der US amerikanischen Vorbilds) einen regelrechten Boom erfahren. Zielgruppe der Tafeln sind heute nach eigener Aussage nicht mehr wie anfangs Obdachlose, sondern „vor allem Arbeitslose und Geringverdiener, Alleinerziehende und Rentner“. Auf den ersten Blick erscheint das Prinzip der Tafeln rundum gut: Überflüssige Lebensmittel werden nicht weggeworfen, sondern an bedürftige Menschen verteilt. Und das alle mit großem ehrenamtlichem Engagement. Trotzdem überkommt mich immer ein sehr zwiespältiges Gefühl, wenn die Kleinlaster der Tafeln über den Hof rollen um Lebensmittel abzuholen oder ich in den Medien Politiker sehen, die sich im Tafel-Engagement sonnen. Darf es so etwas geben müssen?

„Das Ganze hat allein durch seine Dimensionen eine Selbstverständlichkeit bekommen, die nicht mehr hinterfragt wird. Bisher hatten wir noch keine gesellschaftliche Diskussion, ob das der richtige Weg ist, mit Armut umzugehen.“ (Stefan Selke, Soziologe Uni Furtwangen in Der Freitag, 26.12.2008)

Hier mal eine Versuch die verschiedenen Argumente in einer Pro und Contra Liste zusammenzufassen.

  • Die Tafeln verhindern die Entsorgung von essbaren Lebensmitteln und führen sie einer sinnvollen Verwendung zu.
  • Tafeln versorgen arme Haushalte billig mit Lebensmitteln. Sie ergänzen die Sozialleistungen des Staates.
  • Ein großer Teil des essbaren Abfalls der Lebensmittelwirtschaft besteht aus frischen und leicht verderblichen Lebensmitteln. Arme Haushalte werden über die Tafeln so mit diesen für die Ernährung besonders wichtigen Lebensmitteln versorgt.
  • Die Tafeln reduzieren die Lebensmittelausgaben von armen Haushalten und ermöglichen so Anschaffungen, die sonst nicht möglich werden.
  • Die Tafeln animieren Menschen und Firmen zu ehrenamtlichen und sozialen Engagement.
  • Tafeln füllen eine Lücke, die der Staat hinterlässt. Es besteht die Gefahr, dass sie den Staat damit aus der Verantwortung nehmen. Staatliche Hilfe wird durch private Mildtätigkeit ersetzt.
  • Das eigentliche Problem – die Armut in einem reichen Land – lösen die Tafeln nicht. Sie betreiben keine strukturelle Armutsbekämpfung sondern Armutsbewältigung. Politische Forderungen werden von den Tafeln nur sehr verhalten formuliert, wesentliche Anstöße zur Lösung des gesellschaftlichen Problem Armut kommen von ihnen nicht.
  • Institutionalisierte und professionalisierte Hilfe wird schnell zum Selbstzweck. Die Tafeln haben massiv expandiert, „Kundenzahlen“ steigen, das Serviceangebot wird verbreitert, der Begriff „Die Tafeln“ ist als Marke geschützt. Das alles wirkt wie ein erfolgreiches Franchiseunternehmen, eigentlich müsste das größte Ziel der Tafeln aber ihre Überflüssigkeit sein.

Deutlich wird in dieser Gegenüberstellung woher mein persönlicher Zwiespalt kommt und wieso Tafelaktivisten und Tafelkritiker nicht wirklich zusammenfinden: Während die Tafeln auf der individuellen Ebene viele Probleme lösen, verdecken sie auf der gesellschaftlichen Ebene effektiv ein großes Problem ohne zu dessen Lösung beizutragen. Wo zwischen diesen beiden Polen liegt die Lösung?

Links: Bundesverband Die Tafeln e.V. | Das kritische Tafelforum (mit umfangreicher Materialiensammlung)

Lesenswertes: Süddeutsche Zeitung (01.02.10): „Wir müssen das schlechte Gewissen der Sozialpolitik sein“ | Brand Eins (05/2009):  „Am Essen wird zuerst gespart.“ | Stefan Selke (2010):  Kritik der Tafeln in Deutschland: Standortbestimmungen zu einem ambivalenten sozialen Phänomen | Dokumentaion des Tafelsymposiums 2010