Die Lebensmittelwirtschaft gilt in der Wirtschaftspolitik als unsexy – man schmückt sich lieber mit Strategien für High-, Bio- oder Nanotechnolgien. Wieso eigentlich? In Berlin gibt es jetzt eine privatwirtschaftliche Initiative mit konkreten Planungen zu einem Zentrum für Lebensmittel Start-ups.

In Kreuzberg liegt in schönster Spreeuferlage der Viktoriaspeicher auf 4 Hektar Gelände und wartet auf seine Entwicklung. Die städtische Behala hat bereits eine Kaufoption an den meistbietenden Investor vergeben. Geplant sind auf dem Gelände bis zu 580 Wohnungen – überwiegend schick und teuer –, Büros und Läden in vier- bis neungeschossigen Häusern.

Der Ausschuss für Stadtentwicklung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg und die Bezirksverordnetenversammlung lehnen das Konzept ab, fordern einen Rücktritt vom Kaufvertrag und ein neues Vergabeverfahren für das Grundstück. In den Planungen für die Fläche müssten Forderungen nach günstigem Wohnraum, sozialer Infrastruktur und öffentlicher bzw. öffentlich zugänglicher Grünflächen berücksichtigt werden. Die Behala hat hingegen die Kaufoption am 04. Juni nochmal verlängert.

Der Viktoria-Speicher in Berlin-Kreuzberg
Der Viktoria-Speicher in Berlin-Kreuzberg

Gründerzentrum für Lebensmittel-Start-ups

Mit einer völlig anderen Nutzungsidee sind jetzt die Betreiber der Markthalle Neun auf den Plan getreten: Als Werkhof Neun soll der Viktoriaspeicher ein Gründerzentrum für Food Start-ups werden. Die Betreiber der Markthalle Neun haben es in den letzten Jahren geschafft aus einer dahinvegetierenden, historischen Markthalle einen Leuchtturm für eine andere Lebensmittelkultur zu entwickeln. Die Markthalle Neun demonstriert sehr lebendig wie Anders-Essen und Anders-Einkaufen in der Stadt möglich sind. Der Werkhof Neun soll in der Weiterführung dieser Idee zeigen wie Anders-Produzieren möglich ist. Berlin braucht Räume für kreative Ideen, es gäbe genug Leute, diese Räume füllen würden,  sagt Nikolaus Driessen von der Markhalle im Gespräch mit Speiseräume. Die Markhalle Neun hätte gezeigt mit welchen Wahnsinnstempo dies geschehen kann. Seitdem die Idee eines Werkhofes öffentlich sei, deutet sich eine Wiederholung des Nachfragesturms an. „Wir bekommen ‚zig Anfragen – von Leuten, die wir bis dahin gar nicht auf dem Schirm hatten.“

„Die neue Lebensmittelkultur, wie sie in Berlin schon hunderte von Unternehmensgründungen hervorgebracht hat – man kann und sollte in diesem Fall von Start-ups sprechen – wird mittelfristig in mittelständische Unternehmensstrukturen münden. Ausbildungsplätze werden entstehen, Chancen für die Menschen und ihre Stadt werden wachsen.” (Konzept Werkhof Neun)

Für diese kreative Szene möchte der Werkhof einen Ort bieten. Entwickelt werden soll quasi ein Co-Working-Space für Köche, Bäcker, für Lebensmittelarbeiter. „Unser Projekt kann ein Wirtschaftsmotor werden“, sagt Nikolaus Driessen. Alleine durch die Markhallen Neun sind 150 Arbeitsplätze entstanden. Die Bedeutung von Kreativwirtschaft hätte die Politik mittlerweile verstanden, doch Lebensmittelverarbeitung sei als eigenständiges Thema noch gar nicht aufgetaucht. Der Werkhof können hier ein Leuchtturm werden. Dabei ginge es nicht darum, Wohnnutzung auszuschließen, sondern in einem offenen Planungsverfahren ein gemischtes Quartier mit Wohnen und Gewerbe zu entwickeln.

Kristallisationspunkt Werkhof Neun

In nur 600 Meter Entfernung zur Markthalle sollen dann im Viktoriaspeicher preiswerte Räume für klassische Lebensmittelhandwerker, Kleinbetriebe und Existenzgründer entstehen.

„Der Viktoriaspeicher wird im Verbund mit der Markthalle Neun eine starke öffentliche Präsenz im Quartier einnehmen. Prozesse der Nahrungsmittelproduktion, -verarbeitung und -veredelung werden transparent und erfahrbar gemacht.” (Konzept Werkhof Neun)

„Einer der schönen Punkte an urbaner Lebensmittelproduktion ist, dass es etwas ganz bodenständiges ist“, so Nikolaus Driessen. „Vom Food Hipster bis zur Omi mit einem Workshop über das Einwecken erreichen wir ganz unterschiedliche Menschen.“

Die Betreiber der Markhalle Neun bezeichnen die aktuelle Lebensmittelverarbeitung als asozial – und meinen damit, dass die Verarbeitung heute außerhalb des sozialen Bewusstseins und der sozialen Kontrolle irgendwo in Fabrikhallen geschieht. Ihre Idee ist es die Verarbeitung zurück in die Stadt und in das Bewusstsein der Bürger zu holen. Die Markhalle Neun und das Konzept Werkhof Neun zeigen, dass es ein Interesse bei Verbrauchern, Händlern und Verarbeitern an einer solchen Form der (urbanen) Lebensmittelversorgung gibt. Die beiden Beispiele zeigen darüber hinaus, dass Stadtentwicklung ein Interesse an solchen kulinarischen Projekten haben sollte. Die Projekte haben nicht nur ernährungspolitische Bedeutung, sondern insbesondere wirtschaftspolitische: Sie können Kristallisationspunkte für die Renaissance des klassischen städtischen Lebensmittelhandwerks in neuer Form und mit neuen Akteuren werden. Die Markthalle Neun zeigt, dass dies funktionieren kann.

Weiterführende Links

Grundsätzlicheres bei Speiseräume

Beispiele für Wirtschaftsförderung zugunsten städtischer Lebensmittelwirtschaft finden sich in den meisten Ernährungsstrategien u.a. in Greater Philadelphia, New York und Seattle. Ein Blick lohnen auch die Kitchen Inkubatoren.